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Kirche? Lebt doch vom Kontakt

Leere Kirchen sind nicht wirklich neues. Aber keine Hochzeiten, keine Taufen, Beerdigungen mit stark reduzierten Trauernden? Pastor Christoph Harder erlebt ungewohnte Zeiten.

Die Kirche leer, die Konfirmation verschoben, Trauungen abgesagt — es ist eine ungewohnte Situation — nicht nur in der Kirchengemeinde Spradow. Pfarrer Christoph Harder erzählt, was ihm am meisten fehlt — aber auch, wie positiv überrascht er über eine Entwicklung ist.
 

SEHR GEEHRTER HERR HARDER, NUR LANGSAM NORMALISIERT SICH DIE SITUATION IN DER KIRCHE IN ZEITEN VON CORONA. WIE HABEN SIE DIE VERGANGENEN WOCHEN ERLEBT?

Christoph Harder: Es ist schon eine spannende Zeit. Seit Mitte März sind und waren wir in dem Zustand, dass es ein echtes Gemeindeleben ja nicht oder nur sehr eingeschränkt gegeben hat. Keine Gottesdienste, keine Jugendarbeit, keine Gruppenkreise – das, was vorher unvorstellbar war, ist plötzlich traurige Realität geworden.

UND WIE HABEN SIE DARAUF REAGIERT?

CH: Es war uns klar, dass wir für unsere Gemeindemitglieder irgendetwas anbieten wollten und mussten. So kam die Idee, dass wir einen Live-Gottesdienst produzieren, aufnehmen und bei YouTube einstellen. Damit sind wir ohne echte Erwartungen gestartet und von der Resonanz doch überrascht, wenn nicht überwältigt worden. Am 22.03. sind wir damit gestartet – und so ein Gottesdienst hat dann gleich 800 Klicks erhalten. Wenn man überlegt, dass sonst vielleicht rund 80 Personen sonntags zu uns in die Kirche kommen, dann ist das schon eine sehr erstaunliche Zahl.

WIE KOMMT MAN SICH DENN ALS PFARRER VOR, WENN MAN PLÖTZLICH NICHT VOR DER GEMEINDE, SONDERN IN DIE KAMERA SPRICHT?

CH: Das ist schon komisch. Ich bin ein Mensch, der gerne interagiert, der gerne sieht, wie die Menschen reagieren. Am Ende gewöhnt man sich aber auch daran. Und es ist immer noch besser, als gar keinen Gottesdienst feiern zu können.

WIE SAH DENN DANN IHR GANZ PERSÖNLICHES OSTERFEST AUS?

CH: Das war schon komisch. So ein langes Osterwochenende hatte ich noch nie. Ich hätte ja morgens um 7 Uhr eigentlich den ersten Gottesdienst, um 10 Uhr den zweiten, dann noch das Gemeindefrühstück und das Osterfeuer. Alles ist ja flachgefallen. Ich koche total gerne – und habe so, glaube ich, das größte Ostermenü meines Lebens gekocht. Ein echter Trost war das aber nicht. Als dann die Glocken als Erinnerung geläutet haben und man wusste, dass man nicht in die Kirche gehen durfte, da war das schon ein sehr traurig stimmendes Gefühl, das mich da umgeben hat. Auf der anderen Seite muss man sagen: Diese Regeln waren und sind ja richtig. Ich würde mir nie verzeihen, wenn sich bei uns jemand infizieren und dadurch erkranken würde. Das ist es nicht wert, das muss man einfach akzeptieren.

ES GIBT JA NEBEN DEN GOTTESDIENSTEN AUCH VIELE GEMEINDEGRUPPEN UND -KREISE. WIE SIEHT ES HIER AUS?

CH: Die sind natürlich auch alle gestoppt und abgesagt worden. Was noch geht und ging sind Eins-zu-eins-Gespräche. Von denen habe ich in den vergangenen Wochen sehr viele, vor allem seelsorgerische Problemgespräche, geführt.

SIND ES DANN ECHTE EXISTENZÄNGSTE, DIE DIE MENSCHEN UMTREIBEN?

CH: Ja. Das sind Menschen, die vielleicht eh eine depressive Ader haben. Wenn dann noch die sozialen Kontaktmöglichkeiten nachlassen oder gar nicht mehr möglich sind, dann sind die Zeiten für diese Menschen doch sehr schwierig. Da ist es wichtig, dass sie jemanden zum Reden haben.

UND IHR ALLTAG, WIE HAT DER SICH VERÄNDERT?

CH: Ich telefoniere jetzt sehr viel mehr, rufe zum Beispiel die Menschen an, die Geburtstag feiern und die ich sonst besucht habe. Die Gottesdienste aufzunehmen ist auch aufwändiger, als sie normal abzuhalten. Und in den vergangenen Tagen hatte ich auch mehr Bestattungen – auch wenn das sicherlich nicht mit Corona zusammenhängt. Es ist einfach ein anderes Arbeiten, das auf der einen Seite davon bestimmt ist, auf die neue Situation zu reagieren. Und gleichzeitig ist da immer die Hoffnung, dass das Gewohnte wieder zurückkehrt.

ZU IHREN AUFGABEN GEHÖRT ES AUCH, MENSCHEN ZU BEERDIGEN. SIND DIESE TRAUERFEIERN IN ZEITEN VON CORONA NOCH TRAURIGER GEWORDEN, ALS SIE EH SCHON SIND?

CH: Ja, auf jeden Fall. Aktuell dürfen zehn Menschen an einer Trauerfeier teilnehmen – anfangs waren es nur fünf. Das ist schon sehr schwierig zu entscheiden, wer hier mitkommen darf. Und wer nicht. Wir hatten einige Beerdigungen, zu denen in normalen Zeiten sicherlich rund 100 Menschen gekommen wären. Da ist es schon komisch, wenn man dann nur zu fünf Menschen spricht und weiß, dass doch eigentlich viel mehr kommen würden und wollten. Zwischen den Trauernden muss ja immer Abstand gehalten werden – wenn dann die Kinder ihre Mutter nicht trösten, in den Arm nehmen können, wenn der Vater gestorben ist, dann ist das schon bedrückend.

HABEN DIE MENSCHEN FÜR DIESE MASSNAHMEN DENNOCH VERSTÄNDNIS?

CH: Ja, das schon. Viele sind sicherlich traurig, wissen aber auch: es ist, wie es ist. Das ist eine Mentalität, die ich generell beobachte. Man versucht, das Beste draus zu machen.

WIE SIEHT ES MIT DEN SCHÖNEREN MOMENTEN AUS, MIT TAUFEN UND HOCHZEITEN?

CH: Die Taufen, die ich geplant hatte, sind alle abgesagt worden. Auch bei den Hochzeiten finden im Mai keine statt. Einige Hochzeitspaare, die im Juni Termin haben, hoffen noch – ich kann da aber nur wenig Hoffnung machen. Es ist ja auch die Frage, ob ich wirklich so heiraten will, wenn ich vielleicht nur im ganz kleinen Rahmen kirchlich getraut werden kann und danach auch eine Feier nicht möglich ist. Ich glaube, dass es erst in einem halben, vielleicht auch erst in einem Jahr wieder möglich ist, eine Hochzeit, wie wir sie kennen, durchzuführen und auch mit allen Freunden feiern und genießen zu können.

WIE SIEHT ES MIT DER KONFIRMATION AUS?

CH: Auch die haben wir bei uns in Spradow verschieben müssen. Am 20. September soll sie stattfinden – auch wenn wir natürlich nicht wissen, in welchem Umfang dies nun wirklich stattfinden kann.

WIE SIEHT ES PERSPEKTIVISCH MIT DEN GOTTESDIENSTEN GENERELL AUS?

CH: Jetzt, Ende April, wissen wir nur, dass es bald wieder Gottesdienste geben wird. Wir werden in Ruhe schauen, wie wir die Vorgaben erfüllen können, damit die Menschen wirklich sicher zusammenkommen können.

IST FÜR SIE PERSÖNLICH DENN EIN GOTTESDIENST MIT MUNDSCHUTZ VORSTELLBAR?

CH: Ja. Auch wenn das natürlich kein schönes Gefühl ist. Es ist nicht die Eins-a- Lösung, aber mit der Eins-b-Lösung kommt man im Leben häufig auch ziemlich weit. Also: ja, das wäre vorstell- und machbar.

WIRD ES DANN AUCH WIEDER EIN GEMEINSAMES ABENDMAHL GEBEN?

CH: Nein, das wird es erst einmal nicht mehr geben. Dabei gibt es sogar einzeln eingeschweißte Einmal-Abendmahle, die in den USA entwickelt wurden. Die finde ich aber ehrlich gesagt gruselig – dann lassen wir es besser ausfallen.

WENN SICH DIE GESAMTSITUATION WIEDER NORMALISIERT, GLAUBEN SIE, DASS DIE MENSCHEN DAS ABENDMAHL DANN GANZ OHNE VORBEHALTE WIEDER GENIESSEN KÖNNEN?

CH: Ich denke, dass es länger dauern wird, ehe man all das, was die Corona- Krise mitgebracht hat, abgeschüttelt haben wird. Da werden viele sicherlich länger vorsichtig sein. Es ist einfach ein so einschneidendes Erlebnis, das man nicht einfach so hinter sich lässt.

ANDERERSEITS IST DIE KIRCHE JA EINE INSTITUTION, DIE, WENN MAN DAS SO SAGEN DARF, FÜR SOLCHE SITUATIONEN DA IST UND HALT BIETET.

CH: Ja, das stimmt auf jeden Fall. Wenn man sich die Klickzahlen der Online- Gottesdienste anschaut, dann sieht man, wie wichtig dieses Angebot ja auch ist. Es gab auch sehr viele positive Rückmeldungen von Menschen, die sonst nicht sonntags in den Gottesdienst gekommen sind und nun dieses Angebot für sich entdeckt haben.

HEISST DAS AUCH, DASS DIESES ANGEBOT ÜBER DIE KRISE HINAUS BESTAND HABEN KÖNNTE?

CH: Ja, das ist tatsächlich eine Überlegung wert. Darin scheint ja eine Chance und ein Bedarf zu liegen. Das schauen wir uns in Ruhe an, aber es scheint nicht unmöglich, dass wir das so beibehalten.

GAB ODER GIBT ES WEITERE DIGITALE ANGEBOTE, DIE IN DIESER KRISE ENTSTANDEN SIND?

CH: Wir haben – auch wenn das nicht durch die Corona-Krise initiiert wurde, unsere Webseite erneuert und eine App erstellen lassen, die unser Gemeindeleben in gewisser Weise digitalisiert. Daneben hat unsere Jugend etwa ein eigenes Onlineangebot auf die Beine gestellt, was ich wirklich cool finde. Da hat es zum Beispiel eine Schnitzeljagd durch Bünde gegeben, wo Bälle versteckt wurden und per WhatsApp kommuniziert worden ist, wo man danach suchen sollte. Unsere eigenen Kinder haben da auch mitgemacht, sind mit dem Fahrrad suchend durch Bünde gefahren und waren begeistert. So was ist schon toll.

WAS FEHLT IHNEN IN DIESER ZEIT EIGENTLICH PERSÖNLICH AM MEISTEN?

CH: Ganz klar der Kontakt zu Freunden. Dass man nicht mehr miteinander den Abend verbringen, sich treffen kann, zum Fußball gehen kann, das ist schon traurig. Aber vielleicht weiß man, wenn es wieder möglich ist, das Ganze viel mehr zu schätzen als vorher.