zurück

Diese Bünderin ist süchtig nach Handball

Die Geschichte der Trainerin Andrea Nobbe ist wie ein spannendes Buch. Von einem kleinen Dorf in Ungarn aus landet sie in der Nationalmannschaft. Obwohl sie erst mit 14 anfängt zu spielen.

Kein Kühlschrank, kein Auto und wenn es hinkommt fünf Stunden Schlaf. Wenn Andrea Nobbe von ihrer Kindheit erzählt, dann lacht sie immer wieder. Kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen, sagt sie. So wie die Jugendlichen drauf sind. Aber die eigenen Kinder verwöhnt man ja auch mehr, sagt sie. Und muss wieder lachen.

Am Anfang von Andrea Nobbes Geschichte steht ein Dorf in Ungarn. Klein, abgeschnitten von jeglichem Luxus. Ein Bus ist der einzige Weg hinaus. Das einzige was zählt: Familie. Und im Endeffekt ist es genau das, was sie heute hierhergebracht hat. Nach Bünde, mit eigenem Haus, eigener Physiotherapie-Praxis, einem tollen Mann, drei wundervollen Kindern und einer Handball-Karriere wie aus einem Märchenbuch. 

»Das glaubt mir heute keiner«, sagt Andrea Nobbe. In Gedanken schweift sie zu dem Tag ab, an dem sich für sie alles verändert. Andrea ist 14 Jahre alt, als sie das erste Mal bei einem Handballtraining der Schulmannschaft dabei ist. »Gänsehaut«, sagt Andrea. Und pures Adrenalin. »Auch jetzt noch, wenn ich darüber nachdenke. Das hat mich wie ein Schlag getroffen.« Das war das erste Mal, dass Andrea Nobbe mit der Sportart in Berührung kam. Doch nach diesem Tag in Ungarn wird sie nie wieder etwas anderes machen.

In Ungarn wird auf Beton gespielt, Andrea Nobbe ist Rechtshänderin, mit Abstand die Dünnste – und die Jüngste. 1,5 Stunden fährt sie zum Training. Mit dem Bus. Abends nach dem Training nimmt sie die letzte Verbindung des Tages. Im Winter schafft der Bus die Strecke oft nicht. Dann geht es zu Fuß zurück. Über mehrere Kilometer. Mit Schul- und Handballtasche auf dem Rücken. 

Obwohl sie in den ersten Spielen nicht ein einziges Tor wirft, betet Andrea vor dem Schlafen. Sie wünscht sich, dass einmal eine Nationalhymne für sie gespielt wird. Dass dieser Wunsch Jahre später in Erfüllung geht, verdankt Andrea vor allem ihren Eltern – und ihrem Ehrgeiz. 

Mit 18 Jahren in der Bundesliga

»Man muss schon sagen, dass ich super ehrgeizig war. Wenn andere zehn Liegestütze gemacht haben, machte ich 20.« Bei einem Meisterschaftsspiel platzt dann der Knoten. 14 Tore gehen auf ihr Konto. Von da an geht es nur noch nach oben. Sie darf beim Vasas SC mittrainieren – einem der ältesten Frauenhandballvereine. Die anderen Spielerinnen kommen vom vereinseigenen Internat. Andrea wohnt weiterhin bei ihren Eltern. Mit 18 Jahren holt die dortige Trainerin sie in die ungarische Bundesliga. 

Nebenbei macht die junge Frau das Abitur und geht auf die Sporthochschule. Nicht umsonst ist Andrea Nobbe heute ausgebildete Physiotherapeutin UND Sportlehrerin. Von der Uni-Bundesliga-Mannschaft geht es dann 1988 »rüber«. Der TSV Bayer 04 Leverkusen fragt an. Sie wollen Andrea in der deutschen Handballbundesliga sehen. »Da war das noch gar nicht so einfach, aus Ungarn rauszukommen«, sagt Andrea. Und Deutsch – davon kann sie kein Wort. 

Für ihren Wechsel nach Deutschland wird sie eingebürgert und landet schlussendlich in der deutschen Nationalmannschaft. ´88 Weltmeisterschaft in Dänemark, ´89 WM im südkoreanischen Seoul – da schafft es ihre Mannschaft auf Platz 4. Und da auf der »Platte«, als die Hymne für sie gespielt wird. Da geht ihr Traum in Erfüllung. 

Bünderin ist Andrea Nobbe mittlerweile mit ganzem Herzen. Hier lebt sie mit ihrem Mann Thorsten und ihren drei Kindern. Nach ihrer Zeit in Leverkusen wechselt sie zur Eintracht Minden und macht eine Ausbildung zur Physiothera­peutin in der Weserland-Klinik Bad Seebruch in Vlotho. Ihren Mann Thorsten lernt sie kennen, als sie sich bei einem Spiel in Minden die Schulter schwer verletzt. Er ist ihr Physiotherapeut. Sie heiraten und ziehen nach Bünde.

Aus der Bünder Handballwelt ist Andrea Nobbe mittlerweile nicht mehr wegzudenken. Nach 14 Jahren als Trainerin in Lenzinghausen übernimmt sie 2013 die
1. Herren der SG Bünde-Dünne. 2018 will sie ihre Handballkarriere eigentlich endgültig an den Nagel hängen. Ein anderer übernimmt ihren Posten.

»Die Jungs akzeptieren mich zu 100%«

Die vor einigen Jahren eröffnete Familien-Physiotherapie-Praxis nimmt all ihre Zeit in Anspruch. Ab halb sechs sitzt sie dort am Schreibtisch. Ab sechs Uhr vergibt sie Termine. Meistens verlässt sie das Gebäude erst am Abend wieder. »Viel Schlaf habe ich noch nie gekannt«, sagt Andrea. 

Seit fast drei Monaten steht sie aber nun doch wieder am Spielfeldrand »ihrer Jungs« in Bünde. Die Mannschaft ­brauchte dringend einen Übergangs­coach – erst mal bis Mai. Als die Frage kommt, kann Andrea nicht nein sagen. »Wenn ich in der Halle bin und das Harz rieche… Ich bin einfach süchtig nach diesem Sport«, sagt sie achselzuckend. »Meine Jungs aus der Mannschaft akzeptieren mich dort einfach zu 100 Prozent. Obwohl ich eine Frau bin, auch mit meinem Akzent. Dort wird sich, anstatt die Hand zu geben, direkt umarmt.« 

Und wenn sie noch vor Kurzem nach ihrem 12-Stunden-Arbeitstag nach Hause gegangen ist, geht sie jetzt wieder in die Halle. Mit Arbeitstasche und Handballtasche auf dem Rücken. Der Grund: ihre Handballfamilie. 

 

Andrea Nobbe (57) trainiert die erste Herrenmannschaft der SG Bünde-Dünne noch bis Mai. Danach wird die Mannschaft von Sven Pohlmann, dem momentanen Trainer der zweiten Herrenmannschaft, übernommen. Ob Andrea dann irgendwann wieder als Trainerin tätig sein wird? Erst mal freut sie sich, dass bald wieder etwas mehr Freizeit auf dem Plan steht. Wann die Handball-Sucht wieder zuschlägt, weiß aber auch sie nicht.